Die gigantischen XXL-Herrenschuhe in unserem Ladengeschäft in der Ackerstraße erregen immer wieder die Aufmerksamkeit unserer Kunden. Viele wollen wissen, ob es tatsächlich jemanden gibt, der diese riesigen Schuhe tragen kann? Die Antwort: Ja, den gibt es. Und zwar nicht nur einen…
Bereits seit seinem siebten Lebensjahr trifft man Jeison Rodrieguez zu jeder Tages- und Jahreszeit barfuß an. Der heute 17-Jährige geht damit nicht etwa seiner Vorliebe zur ausgedehnten Freifußkultur nach, sondern befindet sich buchstäblich in einer kolossalen Misere. Seit mehr als zehn Jahren gibt es schlichtweg kein Schuhwerk, das den mittlerweile 44 Zentimeter langen Füßen des jungen Venezolaners gewachsen ist. Mit diesem Schicksal steht Jeison keineswegs allein da.
Der russische Hüne von Neustadt
Es muss wahrlich ein imposanter Anblick gewesen sein, wenn Casimir Pisjak – auch Pisjak genannt – um 1914 durch die Straßen von Neustadt flanierte oder bei einem erfolgreichen Cego-Spiel seine schwere Hand auf den Tresen niederfahren ließ. Der 2,41 Meter große Hüne, der während des Ersten Weltkrieges im Bahnhofshotel in Neustadt lebte, überragte bei Weitem die übrigen Neustädter Einwohner. Mit einem Kopfumfang von 68 Zentimetern, einem Brustumfang von 1,70 Meter und stattlichen 187 Kilogramm störte sich Pisjak wohl kaum noch an den neugierigen Blicken der Passanten, immerhin hatte er lange Zeit von ihrer Schaulust gelebt.
Casimir Pisjak wurde vermutlich um das Jahr 1871 in dem damals russischen Radom geboren und führte bis zu seinem 17. Lebensjahr ein gewöhnliches Leben. Erst danach setzte sein außergewöhnliches Wachstum ein und beflügelte ihn bis zu seinem 28. Lebensjahr auf imposante 2,41 Meter. Aus der Not eine Tugend machend, verdiente sich Pisjak zuerst als Leibgardist von Zar Alexander III., bevor er als lebende Attraktion um die Welt reiste und zuletzt auch im Bahnhofshotel von Neustadt gastierte. Nur seine stets nackten Füße wollten nicht ganz zu dem Bild des bärenstarken Pisjak passen. Zu diesem Schluss kam wohl auch der in der Talstraße ansässige Schuhmacher Franz Kreuz und fertigte kurzerhand passendes Schuhwerk für den russischen Pisjak an – eine Spezialanfertigung in Größe 65, für die Pisjak dankbar seinen Geldbeutel schröpfte.
Damaligen Zeitungsartikeln zu Folge vermochte allerdings die Neustädter Kost – trotz der rührenden Zulagen der Bahnhofswirtin – nicht den Magen des großen Pisjak zu füllen. Der ehemalige Gardist fiel nach und nach in sich zusammen und erlag im Frühjahr 1919 einer vermeintlich harmlosen Erkältung. Pisjaks außergewöhnliche Maße stellten auch die Bestatter vor eine ungewohnte Herausforderung. Zuerst wollte der eigens angefertigte Sarg mit einer Länge von 2,50 Meter nicht durch das Treppenhaus passen und musste zuletzt an Seilen heruntergelassen werden. Dann erwies sich auch der übliche Leichenwagen für den Sarg als zu klein und wurde kurzerhand durch einen einfachen Pferdewagen ersetzt. Schuhmacher Kreuz bewahrte unterdessen auch nach Pisjaks Tod sorgsam den beachtlichen Schuhleisten von 40 Zentimetern in seiner Werkstatt auf – heute erinnert er im Heimatmuseum der Stadt Titisee-Neustadt an den einst größten Mann der Welt. Jeison Rodrieguez steht zwar noch am Anfang seines Lebens, doch sieht auch er sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie der russische Pisjak rund 100 Jahre zuvor.
Die größten Füße der Welt
Wie bei vielen seiner Leidensgenossen resultiert Jeisons überdurchschnittliches Wachstum von einer Krankheit namens Akromegalie, bei der es zu einer unkontrollierten Produktion des Wachstumshormons Somatotropin im Hypophysenvorderlappen kommt. In mehr als 95 Prozent der Fälle ist ein Tumor an der Hirnanhangdrüse der Auslöser für die seltene Wachstumskrankheit. Hände, Füße, Unterkiefer, Nase und Ohren nehmen aufgrund der Akromegalie überproportionale Dimensionen an. Auch der bis dato größte Mann aller Zeiten, Robert Wadlow (1918-1940), litt an jener seltenen Tumorerkrankung. Mit einer Größe von 2,54 Metern lebte der US-Amerikaner wahrlich auf großem Fuße – Wadlows 47 Zentimeter lange Exemplare erforderten die spektakuläre Schuhgröße 75.
Mit Schuhgröße 66 hat Jeison Rodrieguez aktuell die größten Füße der Welt – auch wenn der entsprechende Guinness-Buch Eintrag noch aussteht. In den letzten drei Jahren wuchsen Jeisons Füße um erstaunliche 20 Schuhgrößen und blieben seitdem unbeschuht. Die Hoffnung auf bequeme Fußbekleidung hatte der junge Venezolaner bereits aufgegeben, als er überraschend Hilfe aus Deutschland bekam.
Der Schuhmacher für Übergrößen
Schuhe in XXL sind sein Geschäft. Bereits seit Jahrzehnten hat sich Georg Wessels auf Übergrößen spezialisiert und hält den Rekord für die größten Konfektionsschuhe der Welt. Der Orthopädieschuhmacher aus Vreden, einer beschaulichen Stadt im westlichen Münsterland, hat nicht nur die größte Frau der Welt Yao Defen (2,34 m) mit Schuhwerk in Größe 57 ausgestattet. Auch der aktuell größte Mann der Welt, Sultan Kösen (2,51 m), sowie der Ukrainer Leonid Stadnik zählen mit Schuhgröße 62 und 64 zu Wessels außergewöhnlicher Kundschaft.
Für den 17-jährigen Jeison Rodrieguez aus der Nähe von Caracas in Venezuela und seine 44 Zentimeter langen Füße, fertigte Wessels jüngst Schuhwerk in Größe 66 an. Anhand eines Fußabdrucks und diverser Fotos entwarf der deutsche Orthopädieschuhmacher für Jeison je ein Paar Sandalen, Halbschuhe und Arbeitsschuhe in seiner heimischen Werkstatt. Mit den XXL-Tretern im Gepäck reiste Wessels Anfang Mai 2013 schließlich nach Caracas und lieferte die lang ersehnten Schuhe persönlich bei seinem 2,20 Meter großen Besitzer ab.
Übrigens: Die größten Schuhe, die Georg Wessels bislang in seiner Karriere als Schuhmacher angefertigt hat, trugen Größe 69 und gehörten dem im Jahr 2006 verstorbenen US-Amerikaner Matthew McGory.