Ein früher Morgen in New York City im Oktober 2011. Die Fußgängerpassage vor dem Rockefeller Plaza platzt bereits aus allen Nähten. Dicht gedrängt steht die Masse und wartet auf den Auftritt der Band Coldplay, die im Rahmen der NBC-Today-Show, die hier jeden Morgen live produziert wird, Songs aus dem neuen Album live auf den Straßen New Yorks spielen wird. Während die Fans den Auftritt ihrer Idole herbeisehen findet der aufmerksame Beobachter nur wenige Meter entfernt, im Untergeschoss des Rockefeller Centers, eine Menschenansammlung der anderen Art. Vor einem Laden mit riesigen Panoramaschaufenstern stehen hier Männer in Anzügen brav und geduldig an. Gibt Coldplay-Frontmann Chris Martin hier etwa Autogramme und lässt die Herren im feinen Zwirn plötzlich wieder zu Teenager werden? Nein, sie warten auf einen freien Platz auf einem der thronähnlichen Schuhputzstühle im inneren des Landens.
Was in unseren Breiten schier undenkbar, gehört in Nordamerika zum Alltagsbild, der Schuhputzer. Ob im Rockfeller Center oder rund um die Wall Street an der südlichen Spitze Manhattans, Schuhputzer finden sich im gesamten Stadtgebiet der Metropole und ihr Angebot wird sehr gerne angenommen. Dies verwundert kaum, denn zur Kleidung des Mannes in New York gehört neben dem Anzug auch ein Paar hochwertiger Schuhklassiker, die natürlich gepflegt werden möchten. Für Schuhliebhaber ist ein Besuch vom Big Apple daher eine wahre Freude.
Moralische Bedenken gegenüber Schuhputzern?
Neben den USA finden sich ebenso im gesamten südamerikanischen, südeuropäischen und asiatischen Raum Schuhputzer auf den Straßen, in Zentraleuropa dagegen überhaupt nicht. Zumindest in den USA entwickelte sich der Schuhputzer Anfang des 20. Jahrunderts zu einem eigenständigen Berufsbild. In den schweren wirtschaftlichen Zeiten, versuchten Immigranten auf diese Art und Weise rasch ein paar Pennys zu machen. Diese, aus der Not heraus geborene Beschäftigung, kann heute auf eine lange Tradition zurückblicken. In den USA, England und Spanien existieren übrigens auch Firmen, die tagsüber ihre Schuhputzdienste in den Unternehmen selbst offerieren. Der Schuhputzer wuselt hier durch die Büroetagen und zaubert einen strahlenden Glanz auf die Businessschuhe der Angestellten. Doch wo liegen die Gründe für die weitestgehende Nichtexistenz von professionellen Schuhputzern in Deutschland?
Sind es moralische Bedenken? Denn immerhin thront der Kunde über dem Schuhputzer, der zu seinen Füßen seiner Arbeit nachgeht. Doch reicht das als Begründung? Denn immerhin finden sich in den deutschen Großstädten an jeder Ecke Pfandpflaschensammler und mal ganz ehrlich: Was ist demütigender? Schuhe zu putzen oder in der Mülltonne nach Leergut zu suchen? Es muss klar und deutlich gesagt werden: Das passionierte Putzen von Schuhen ist weder herabwürdigend noch eine niedrige Tätigkeit. Ganz im Gegenteil, hochwertige Schuhe benötigen eine gewissenhafte und detailverliebte Pflege, will der Besitzer lange Freude an ihnen haben. Ist man dann selbst nicht in der Lage diese auszuführen, hat schlicht weg nicht die Zeit oder möchte sich lieber einem Fachmann anvertrauen, dann ist der Schuhputzer genau der richtige Mann für diesen Job. Strahlend schöne Schuhe und ein damit verbundener tadelloser Auftritt sind das Ergebnis dieses hervorragenden Services.
Erstaunlicherweise gehörten auch in Deutschland Schuhputzer einst zum festen Alltagsbild in Großstädten. In Berlin zum Beispiel konnte der Gentleman in den „Goldenen Zwanzigern“ bis in die 1930er Jahre hinein auf Schuhputze am Potsdamer Platz und Unter den Linden treffen. Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges verschwand der Schuhputzer jedoch von den mitteleuropäischen Straßen und sollte bis heute nicht mehr zurückkehren.
Überschaubarer Markt in Deutschland
Völlig weg sind sie dabei nicht, doch haben sich ihrer Einsatzgebiete weitestgehend verändert. Vornehmlich bieten sie ihre Dienste heute als Show-Einlage auf Messen und Firmenfeiern an, natürlich im obligatorischen Look der längst vergangenen Zeiten mit Schiebermütze und Knickerbocker-Hose. Das macht Eindruck, ist jedoch Universen vom massentauglichen Putzservice amerikanischer Großstädte entfernt. Einige Schuhputzer, wie Peter Borggreve mit seinem »Der feine Auftritt« bieten auch einen Hol-und Bringdienst für reinigungsbedürftige Schuhe an. An einigen deutschen Flughäfen kann der Reisende auf die Fertigkeiten verschiedener Schuhputzer zurückgreifen und im Berliner KaDeWe freut sich Valentin Zamora Lopez vom »Classic Shoe Care Service«, an der Rolltreppe in der 1. Etage, direkt am Zugang zum Schuhverkaufsbereich, über den Besuch von Männern mit schmutzigen Schuhen. Wirklich groß ist der Markt nicht, doch es gibt Hoffnung, denn unter dem Label »Burgol Shoe Care Service« bildet Rainer Ersfeld aktuell Schuhputzer aus, die sich hoffentlich in absehbarer Zeit in vielen deutschen Städten um einen ordentlichen Schuhglanz kümmern werden. Die Nachfrage wird hier dann ganz sicher mit dem Angebot steigen.
Dass dem so sein kann, beweist der Blick zurück nach New York. Während Coldplay ihren kurzen TV-Auftritt längst hinter sich gebracht haben und die Massen vor dem Rockefeller Plaza längst verschwunden sind, will die kleine Schlange von Männern im Untergeschoss des Rockefeller Centers nicht abreißen. Unermüdlich sind die Arme der Schuhputzer in Bewegung und etwa alle fünf Minuten verlässt ein zufriedener Herr mit blitzeblanken Schuhen den Laden. Bilder von denen wir hier nur träumen können, aber wer weiß, manchmal lernen Träume fliegen und mit ihnen kehren die »Shoe Shine Boys« zurück in die Mitte unsere Gesellschaft.